Insel der verlorenen Erinnerung (Yoko Ogawa) 352 Seiten | € 22,00 [D] | Hardcover | 4,5 Herzchen Verlag (Liebeskind) | pustet |
INHALT
Auf einer Insel, nicht weit vom Festland entfernt, prägen sonderbare Ereignisse das Leben. In regelmäßigen Abständen verschwinden Dinge, und zwar für immer. Zunächst sind es Hüte, dann alle Vögel, später die Fähre. Bald gibt es keine Haarbänder mehr und keine Rosen … Die Bewohner haben sich damit abgefunden, dass auch ihre Erinnerung immer weiter verblasst. Nur einige wenige können nichts vergessen. Deshalb werden sie von der Erinnerungspolizei verfolgt, die dafür Sorge trägt, dass alle verschwundenen Dinge auch verschwunden bleiben, nicht nur im alltäglichen Leben, sondern auch in den Köpfen der Menschen. Als eine junge Schriftstellerin herausfindet, dass ihr Verleger Gefahr läuft, von der Erinnerungspolizei festgenommen zu werden, beschließt sie, ihm zu helfen – auch wenn sie damit ihr Leben riskiert. Sie richtet im Untergeschoss ihres Hauses ein Versteck für ihn ein. Doch die Razzien der Polizei werden ständig ausgeweitet, und immer häufiger verschwinden Dinge. Die beiden hoffen auf die Fertigstellung ihres neuen Romans als letzte Möglichkeit, die Vergangenheit zu bewahren.
Manchmal frage ich mich, was auf der Insel zuerst verschwand.
MEINE MEINUNG
Dieses Buch habe ich auf Empfehlung von zwei Kolleginnen gelesen. Zunächst war ich skeptisch obwohl mich die Grundidee dieses Romans durchaus ansprach. Doch bereits nach wenigen Seiten konnte ich direkt in die Geschichte eintauchen. Yoko Ogwa zeichnet das Bild einer zerfallenden Gesellschaft, die in permanenter indirekter Angst lebt. Dies hat eine unheimliche, bedrohliche Atmosphäre geschaffen, die sich verstärkt als die Protagonistin ihren Verleger versteckt. Ein besonderes Merkmal dieses Buches ist, dass hier keine Personen Namen tragen. Höchstens Familiennamen. So bleibt die Protagonistin namenlos, ihr bester Freund, zu dem sich eine sehr innige Beziehung pflegt, wird stets »der alte Mann« genannt und ihr Verleger hat den einfach Namen »R«. Durch diese Namenslosigkeit und durch den besonderen Schreibstil der Autorin bekommt die Geschichte trotz aller Düsternis einen märchenhaften Charakter und es hätte mich im Nachhinein nicht verwundert, wenn der erste Satz »Es war einmal...« gelautet hätte.
Gut gefallen hat mir auch, dass das Leben, das hier beschrieben wird, äußerst einfach ist, ohne diese Reizüberflutung der heutigen Zeit. Auch wenn man als Leser Angst hat, das Rs Versteck auffliegt, so kann man sich doch in dieser Einfachheit verlieren, etwas zur Ruhe kommen, denn man weiß,wie die Protagonistin, dass man gegen das Verschwinden nichts unternehmen kann und es einfach über sich ergehen lassen muss. Wie die Autorin ebendiesen Prozess beschreibt ist äußerst interessant, denn es scheint bezüglich der Gegenstände ein Kollektivgedächtnis zu geben, sodass niemand den (Nicht)Nutzen einer Sache, die verschwindet, in Frage stellt. Somit wurde man auch als Leser zum Nachdenken angeregt. Wie würde man das eigenen Leben gestalten, wenn es bestimmte Gegenstände nicht (mehr) gebe?
Des Weiteren wird hier auch das Konzept »Buch in Buch« aufgegriffen: dadurch, dass die Protagonistin Schriftstellerin ist, werden auch hier Teile ihres Romans, den sie schreibt, aufgegriffen. Zunächst wirkt dessen Handlung ziemlich willkürlich gewählt, doch im weiteren Verlauf der Geschichte ist festzustellen, dass es erstaunliche Parallelen gibt und das ganze eine Metapher für das Verschwinden ist.
Das Einzige, was mir gefehlt hat, beziehungsweise, was ich gerne erfahren hätte, war das »Warum«. Warum verschwinden diese Gegenstände? Was ist das Ziel/Sinn dahinter? Was geschieht mit dem Menschen, die nicht von dem Kollektiven Gedächtnisverlust betroffen sind? Wie hat alles begonnen?
Nichtsdestotrotz konnte mich das Gesamtkonzept des Romans überzeugen, auch wenn das Ende sehr abstrus und unvorhersehbar war. Aber genau darum geht es. Aus dem Verschwinden, das sich Auflösen, das Beste zu machen und weiterhin an dem Sein festzuhalten.
FAZIT
Ein wunderbarer atmosphärischer Roman, den ich aufgrund seiner außergewöhnlichen Handlung und fesselnden Schreibstils nur weiterempfehlen kann.
4,5 / 5 Herzchen
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